Wunderschönes Keyreich und verkorkster Kniffel-KlonSepp Herberger, der alte Brettspielfuchs, wusste es schon immer, kaum ein Ludophiler hat schließlich so viele Glückskeksweisheiten für unser Fachgebiet hinterlassen: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ – was sich vor allem am offenen Freitag der Pöppelhelden zeigt, denn da wird es meistens spät, eine Partie folgt der nächsten. Erst recht wenn mehr als 20 Spieler zusammenkommen, aber auch da kennt der Zitatenschatz mit „Mindestens elf Brettspielfreunde müsst ihr sein“, damit es ein langer Abend werden kann, die passende Floskel. Und Herberger orakelte übrigens auch schon 1955: „Das Spiel dauert 90 Minuten …“, wobei der Nachsatz, der sehr wichtig ist, seltsamerweise komplett in Vergessenheit geraten ist: „… es sei denn, Bodo sitzt mit am Tisch.“

Womit wir beim Thema sind: Bodo trainiert. Bodo wird wieder beim Finale der Deutschen Mannschaftsmeisterschaft im Brettspiel (DMiB) auflaufen. Zwar liegt die Wahrheit immer auf dem Brett, doch natürlich sollte man nicht komplett ohne Grundlage antreten. Da aber Taktiklehre am Whiteboard und Konditionstraining in Form nächtelanger Optimierungssessions allein nicht ausreichen, ist die wichtigste Übungsform weiterhin: das Trainingsspiel, um die taktischen Laufwege zu internalisieren. Zum Sparring erklärten sich bereit: Bettina (sie hat ja auch keine Wahl), Simone, Andreas, André K. und anfangs sogar Robert. Vorbereitet wird Bodo auf die Disziplinen Augustus, Keyflower und Kniffel – Das KartenspielRialto ist dagegen der große unbekannte Gegner, bislang zumindest, die Scouts zur Spielbeobachtung werden aber noch ausgesandt. Das Pöppelhelden-Trainingslager offenbart allerdings Schlimmes. Gott sei Dank hat Bodo noch bis zum 25. Mai Zeit zu üben – bis jetzt ist der Trainingsrückstand erschreckend. Es erinnert sehr an die deutsche Fußballnationalmannschaft unmittelbar vor der WM 2006. Allerdings kam dann das Sommermärchen. Bodo darf also hoffen, wir alle wünschen uns ein Bodomärchen.

AugustusAnpfiff: Augustus – auf den Tag genau 2057 Jahre nach der Ermordung von Gaius Julius Caesar am 15. März 44 vor Christus, also den Tag, an dem Augustus‘ Karriere Fahrt aufnahm. Ganz frisch und ganz neu ist das, was Paolo Mori beim Schweizer Jungverlag Hurrican veröffentlicht hat. Und es kursieren auch Gerüchte, wie das Spiel entstand: „Bingo!“, rief Mori wahrscheinlich, als er die lindgrüne Plastikscheibe auf die 25 legte und einen Strauß Seidenrosen gewann. Dabei hatte er eigentlich nur in einer mallorquinischen Seniorenresidenz Unterschlupf vor einem Platzregen gesucht und war unerwartet herzlich in der allnachmittäglichen Zahlenzieh-Spielroutine im Speisesaal aufgenommen worden. Und während er dort mit bunten Kunststoffchips die Ziffern zudeckte, die der etwas zu gut gelaunte Ausrufer knödelte, dachte er sich: „Daraus lässt sich doch was machen.“ Mit seinen Kumpels vom Tuning-Club machte er aus den Zahlen Symbole wie zwei gekreuzte Schwerter, Schild oder Streitwagen und aus den bunten Plastikchips figural geformte Klötzchen, genannt Legionen; statt eines Tetrapacks Sangria gab es als Gewinn für eine vollständig abgedeckte Reihe Siegpunkte oder Sonderfunktionen, ab und an darf sich der beste aller Abdecker auch noch einen kleinen Bonus genehmigen. Wer als erster sieben Bingotäfelchen erfüllt hat, gibt dies den anderen Legati Augusti am Tisch per Akklamation zu verstehen, gewinnt und steht in Augustus‘ Liste der absoluten Lieblingsfreunde bei facies liber auf Platz numero uno! Bingo!

Spielsituation Augustus

Spielsituation Augustus

Augustus spielt sich locker, denn der aktuelle Ausrufer zieht ein Plättchen aus dem Säckchen, dann wird lustig mit den Legionen abgedeckt. Und weiter. Bis ein Jokersymbol kommt, dann wandern alle bis dahin gezogenen Symbolchips zurück in den Stoffbeutel, der nächste Spieler darf ziehen und verkünden. Tricky wird es dadurch, dass die sieben Legionen, die einem Legatum anfangs nur zur Verfügung stehen, knapp bemessen sind. Und sonst? Das Spiel plätschert vor sich hin und bekommt das in diesem Fall nicht besonders ehrenvolle Attribut „nett“ verliehen. Augustus ist nicht unspielbar, es ist im Segment der seichten Bespaßung aber auch keine ernsthafte Bereicherung, da gibt es unterhaltsamere Spiele. Das gute alte Würfel-Bingo zum Beispiel. (Übrigens: Bodo gewinnt. „Ave Caesar, lucricupitoris te salutat!“, mag der Asterixianer unter den geneigten Lesern nun denken und süffisant in sich hinein schmunzeln.)

KeyflowerNach dieser lockeren Aufwärmrunde wird es nun ernst. Keyflower, das nunmehr siebte Spiel, das im von Richard Breese erdachten Mittelalter-Land Keydom angesiedelt ist, steht an. Keyflower wurde in Essen mit reichlich Vorschusslorbeeren überdeckt, auch das, was im Netz veröffentlicht wurde, sang Hohelieder mit so lieblichen Melodeien und so zuckersüßen Versen dazu, dass jeder, der seiner ersten Partie noch entgegensah, vor Sehnsucht geradezu zerging. Und auch das Kritiker-Kollegium der Spielbox beschied dem Sohn von Key Market, Sohn von Key Harvest, Sohn von Keythedral, Sohn von Keytown, Sohn von Keydom, Sohn von Keywood ein nicht abzusprechendes Beglückungspotenzial. Auf also zum Hochamt.

Richard Breese hat für das neueste Key-Kind eine Idee von Sebastian Bleasdale zusammen mit diesem veredelt. Die Spielfamilie, in deren Schoß das Arbeitereinsetzen erfunden wurde, nutzt natürlich auch dieses Mal diesen Hauptmechanismus. Doch lassen wir unsere Männer und Frauen nicht nur im Keywald für uns Holzhacken oder in der Bildhauerei Steine formen oder in der Taverne picheln, sondern sie sind auch diejenigen, die wir zu den Auktionen schicken, auf dass sie mit zusätzlichen Morgen Land unser Dorf nicht nur schöner machen, sondern vor allem wachsen lassen. Das ist klug ausgedacht. Vor allem, weil alle Spieler mit den drei gleichen Farben spielen. Der Key-Kommunalfürst, der zuerst ein Dorfplättchen besetzt, gibt nun vor, welche Arbeiter dort nur noch eingesetzt werden können. Wo also schon ein gewerkschaftstreuer roter Keyple (der Laie fragt sich: Was?, der Depeche-Mode-Fans weiß dagegen längst „Keyple are People“) – während also ein roter Keyple das Bruttosozialprodukt mehrt, wird ein dem Alkohol nicht abgeneigter blauer Keyple nichts mehr bestellen auf dieser Scholle. Nach und nach kommen noch ökomökige grüne Keyple ins Spiel, die vor allem dem, der sie früh besitzt, einen nachhaltigen Vorteil verschaffen.

Spielsituation Keyflower

Spielsituation Keyflower

Ziel ist es natürlich, in den Endwertungen die meisten Key-Punkte gesammelt zu haben. Besondere Wertungsplättchen ermöglichen dies, indem sie zum Beispiel das Anhäufen von Rohstoffen belohnen. Oder den konsequenten Ausbau der eigenen maritimen Infrastruktur. Und alle im Dorf angesiedelten Gebäude können auch noch Punkte bringen, allerdings muss man sie dafür erst ausbauen, in dem man Rohstoffe abgibt oder das richtige Werkzeug besitzt. Gespielt wird in den vier Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter – und das Spiel endet nach 90 Minuten, es sei denn … (siehe oben). Das Rad neu erfunden wurde damit sicherlich nicht, aber es wurde Altbekanntes auf höchst angenehm elegante Weise frisch zusammengefügt, ein schönes Beispiel dafür, dass das gesamte Spiel mehr als die Summe seiner Einzelteile ist. Das alles spielt sich zudem auch herrlich leicht, bietet viele Wege, die zum Sieg führen können, und ist auch noch in gesündester Art interaktiv. Es lässt sich schnell sagen, dass Keyflower tatsächlich ein kleines Schätzchen ist, das zu heben sich lohnt.

Keyflower ist auch optisch ein solcher Genuss, dass an dieser Stelle noch eine Stilkritik unbedingt angebracht ist. Juliet Breese, die für ihren Bruder Richard bislang alle Key-Spiele ins Bild gesetzt hat, zaubert einmal mehr ein fantasievolles, unfassbar ästhetisch beglückendes Keydom. Besonders bemerkenswert dabei ist die verschwenderische Opulenz ihrer Arbeit. Denn die Vorder- und Rückseiten aller zu drehenden Plättchen sind individuell gestaltet. Während die Bäume und Sträucher zum Beispiel im Frühling noch kein Laub tragen, stehen sie im üppigen Grün dar, sobald man sie auf ihre Ausbau-Seite dreht. Das gleiche Spielchen mit Sommer und Herbst, wenn das Laub seine Farbe vom saftigen Grün zu Herbst-Gold-Bronze wechselt. Auch jedes Haus wächst mit seiner Bedeutung. Mal subtil wie die Gießerei, die hinten raus nur einen kleinen Anbau erhält, mal ganz selbstbewusst, wie die Scheune, die als kleine Bretterbude beginnt und schließlich wie eine Kathedrale der Viehzucht ausschaut. Dann gibt es auf fast jeder Karte verspielte Details zu entdecken: Im Herbst leuchten vor dem Haus des Goldschmieds die frisch geernteten Kürbisse, das Gemüsebeet ist noch üppig bewachsen, auf der Winterseite liegt das kleine Stückchen Acker brach. Auch jedes der Häuschen, die als Sichtschirm dienen, hat Juliet Breese individuell gestaltet, nicht nur von außen, jede Inneneinrichtung ist anders. Zudem finden sich hie und da Tiere, vom Waschbären über einen Dachs und einen Elch bis hin zum Fisch fangenden Weißkopfseeadler. Dieses außergewöhnliche Artwork, das in seiner leicht schräg-schiefen Perspektivität auch ein wenig an naive Malerei und an hochklassige Kinderbuchillustrationen erinnert, ist nicht nur opulent in seiner schier unbeschränkten Detailvernarrtheit, sondern es ist auch deswegen geradezu verschwenderisch, weil vor allem auf den Vorderseiten der Dorfplättchen ein Großteil der Fläche von Funktions-Piktogrammen verdeckt ist. Im Spiel selbst wird also sehr wahrscheinlich kaum ein Spieler überhaupt wahrnehmen, was für ein außergewöhnlich brillantes Kunstwerk Keyflower in seiner Gesamtheit geworden ist. Dass sich der Breese-Clan trotzdem diese Mühe macht, dokumentiert, mit welcher Hingabe sie ihr Keydom immer noch gestalten.

Aber ich schweife ab. Kommen wir zum Wesentlichen: Bodo gewinnt nicht. Bodo ist das Werder Bremen dieser Keyflower-Runde, nicht nur weil er die meisten grünen Keyples hinter seinem Sichtschirm stapelt. So wird das nix mit der Deutschen Meisterschaft, das reicht nicht einmal für einen Europa-League-Platz. Der Trainingsrückstand: erschreckend.

Kniffel - Das KartenspielZum Schluss müssen die Muskeln wieder gelockert werden, es geht zum Auslaufen mittels einer Partie Kniffel – Das Kartenspiel. Es wird ein gefühlt langes Auslaufen, denn der Karten-Klon des Klassikers kommt nur schwer in Gang. Es dauert, bis man die erste ordentliche Kombination gewinnbringend abgeworfen hat. Und auch dann stellt sich vor allem ein immer wiederkehrendes Gefühl von „Es dauert“ ein. Denn an der Stelle, wo die Würfel ein schnelles Spiel ermöglichen, sind die Karten nur ein Bremsklotz. Karten ziehen, wieder aufs Handkartenlimit reduzieren, ständig muss der Ablage stapel neu gemischt werden. Das ist zähes Handwerk. Zudem gibt es den Mitfieber-Effekt des Originals nicht, das Feixen am Tisch, wenn jemand auf Kniffel spielt – und vor ihm nach den ersten beiden Würfen immer noch erst eine Fünf liegt. Und dann kommt der dritte Versuch, vier Fünfen, Spaß am Tisch. Das passiert vor allem im Original immer mal wieder. Im Kartenspiel dagegen äußerst selten.

Dass die Kniffel-Familie wachsen soll, ist nur folgerichtig, weil es den Gesetzen des Marktes gehorcht. Aber der Kartenmechanismus passt nicht zu diesem Spielprinzip, zumindest wenn man nicht einen professionellen Dealer am Tisch sitzen hat, der jeden Spieler mit seinem Kartennachschub versorgt und mischt, wird es faserig. So ist der neue Klon der Familie leider nur ein Kniffel-Clown, allerdings ein trauriger, ein unlustiger, ein schlecht geschminkter. Bodo gewinnt übrigens wieder nicht. Und er sieht nicht so aus, als wenn er Lust auf weitere Trainingseinheiten speziell in dieser Disziplin hat. Aber in Herne geht es ja nicht um den Spaß. Es geht ums Gewinnen.

Außerdem gespielt wurden: Bora Bora, Dicht dran!, Fusion, Goblins Inc., Le Havre – Der Binnenhafen, Love Letter, Schwarz Rot Gelb, Suburbia, Targi, Tzolk’in – Der Maya-Kalender und Vegas