Von Simone und Andreas

Spiel des Jahres Logo

Hundsmühlen, im Juni. So viel Familienspieligkeit, dieses ständige Gewürfele, dieses reine Geschicklichkeitsgedöns reicht Bodo nicht mehr aus. Der Mann hat sich immerhin gerade für die Brettspiel-Europameisterschaft qualifiziert (gut, bei den eher schwierigen Spielen wie Augustus und Kniffel – Das Kartenspiel hat er ein wenig geschwächelt, doch das tut jetzt nichts zur Sache). Der Herr EM-Spieler braucht jetzt Abwechslung, etwas Herzhaftes, Eiweißhaltiges, etwas von der Liste Kennerspiel des Jahres, die Liste für echte Männer, die nur mit einem Taschenmesser bewaffnet in der Wildnis überleben können. Die rote Empfehlungsliste unterfordert ihn, so wie der Anfängerkurs Laubsägearbeiten in der Volkshochschule es einst tat.

Terra Mystica und Tzolk’in – Der Maya-Kalender sind dann doch zu lang für diesen bereits sehr angebrochenen Abend, Brügge evoziert eine etwas gedehntes „Och, nööö“ als Reaktion, ähnlich differenziert sind die Aussagen zu Die Legenden von Andor. Und wenn vier von fünf Teilnehmern ausscheiden, bleibt halt nur ein Kandidat übrig: Die Paläste von Carrara. Ein Rennspiel von Wolfgang Kramer und Michael Kiesling, erschienen beim Double-Nominee Hans im Glück. Moment mal: ein Rennspiel? Steht da Rennspiel? Ja, steht da. Bislang machte es natürlich eher den Eindruck, dass es sich um sein klassisches Euro-Game handelt: Klötzchen kaufen, aus Klötzchen Häuschen bauen, aus Häuschen Punkte generieren. Diese arg oberflächliche Betrachtung mag dazu führen, dass der Rennspielcharakter bislang auch von Fachwissenschaftlern übersehen wurde.

Aber natürlich geht es nur um Geschwindigkeit. Denn wer die drei Siegbedingungen erfüllt, kann das Spiel beenden – wobei nicht zwangsläufig derjenige, der am schnellsten ist, auch die meisten Punkte bekommt. Aber Bodo macht uns mal eben vor, dass er den Spirit des Spiels verinnerlicht hat, er macht einen auf Porsche Carrara – und nach gefühlt sechs Runden wäre er eigentlich schon am Ziel: Er hat in zwei Städten mindestens drei Gebäude errichtet, vier unterschiedliche Objekte und mehr als 20 Siegpunkte gesammelt. Es fühlt sich in dem Moment ein wenig so an, als wenn da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein muss, denn Marco und ich sind in der Sekunde, als Bodo über die Ziellinie braust, gerade dabei, in den zweiten Gang hochzuschalten, während Christian sogar noch am Zündschloss rumnestelt und den Schlüssel nicht reinkriegt.

Das Rad von Carrara: Ein ganz offensichtlicher Hinweis darauf, dass es sich mitnichten um ein schnödes Euro-Häuschenbauer-Game handelt, sondern um ein Rennpsiel.

Das Rad von Carrara: Ein ganz offensichtlicher Hinweis darauf, dass es sich mitnichten um ein schnödes Euro-Häuschenbauer-Game handelt, sondern um ein Rennpsiel.

Bodo ist übrigens das perfekte Beispiel dafür, wie tief die Grundideen des Humanismus in der Spieleszene verwurzelt ist. Obwohl klar ist, dass er gewonnen hat, ach was: dass er uns alle deklassiert hat, denkt er nicht daran, das Spielende auszurufen. Das ist lediglich ein Kann, kein Muss. Bodo saugt lieber noch etwas Nektar daraus, die anderen am Tisch nicht einfach nur haushoch mit seiner Extremstrategie aus billig und schnell hochgezogenen Sozialbauten in Massa und Lérici hinter sich zu lassen, nein, er will uns demütigen, uns in einer leicht kinskiesken Allmachtsfantasie wie Gewürm, Geschmeiß und Gekröse in den verrotteten Eingeweiden einer apokalyptischen, von Hieronymus Bosch ersonnenen Niederlagenwelt langsam ersticken sehen. Was soll ich sagen: Das ist ihm durchaus passabel gelungen. Jetzt will allerdings keiner mehr etwas von der Anthrazit-Liste mit ihm spielen, jetzt soll doch lieber gewürfelt werden.

Der Name Qwixx ist verräterisch - denn natürlich geht es bei der munteren Würfelei um Geschwindigkeit. Sonst hieße der Spiel-des-Jahres-Aspirant ja auch Sloxx.

Der Name Qwixx ist verräterisch – denn natürlich geht es bei der munteren Würfelei um Geschwindigkeit. Sonst hieße der Spiel-des-Jahres-Aspirant ja auch Sloxx.

Bodo stöhnt. Aber gut, zu einer Partie Qwixx kann er dann doch nicht nein sagen. Niemand kann zu Qwixx wirklich nein sagen, solche Menschen gibt es doch gar nicht. Gegen einen gut gemachten Disney-Film ist schließlich auch nichts einzuwenden, es muss doch nicht immer Viscontis Leopard sein, es kann doch auch mal Cap und Capper laufen. Dabei liefert unsere Fünferrunde gleich zwei interessante Einsichten: Man kann Qwixx auch aggressiv, sozusagen als Rennspiel (hey, schon das zweite auf der Liste) interpretieren – und einfach mal richtig Druck aufbauen, wenn man die rote Reihe mit einer Sechs beginnt. Yeah, das ist Pressing in Reinkultur, der Gegner wird schon am eigenen Sechszehner attackiert. Und man kann tatsächlich ins Grübeln geraten, wenn die Würfel einem zu viel Gutes auf einmal wollen. Oder eigentlich nur Schlechtes. Aber wenn das Spiel als Grübelspiel geplant gewesen wäre, müsste es ja Sloxx (sprich: slooks) heißen. Heißt es aber nicht. Also, schnell weiter: würfelnwürfelnwürfelnwürfeln. Sehr schön, auf jeden Fall besser als Augustus für den roten Pöppel geeignet, meinen die Autoren dieser Zeilen zumindest.

Allerdings bietet die rote Liste der besonders zum Spielen geeigneten Spiele auch mehr als seichte Sechsseiter-Bespaßung, aus einem anscheinend immanenten Drang der Jury heraus findet sich mindestens auch immer ein abstraktes Spiel darauf. Und ein Verlag, der sich auf Abstraktes spezialisiert hat, ist Gerhards Spiel und Design, dieses Mal mit einem Werk von Dieter Stein: Mixtour. Solche Spiele kann man spielen – oder man kann sie spielen. Das Fesselnde (neben den wundervollen, hochwertigen Holzmaterialien, die diesen kleinen Verlag weit über den Durchschnitt erheben) sind die simplen Regeln. Im Grunde sind es zwei: Entweder setzt einer der beiden Spieler einen neuen Stein auf ein leeres Feld. Oder er bewegt einen der bereits auf dem Plan befindlichen Türme. Schafft es dabei ein Spieler, einen mindestens fünf Steine hohen Turm zu errichten, endet das Spiel. Gewonnen hat, wessen Steinchen das Turmdach bildet.

Die erste Partie von Mixtour wird etwas stotternd und hakelig verlaufen, versprochen. Das liegt am Zugmechanismus. Entgegen der üblichen Vielspieler-Gewohnheit zieht man einen Turm nämlich nicht etwa so viele Felder vertikal, horizontal oder diagonal über das Brett, wie dieser Turm hoch ist. Entscheidend ist der Turm, auf den man rauf springt. Möchte man mit seinem Türmchen also auf einen einzelnen Stein hüpfen (der laut Regel auch schon ein richtiger Turm ist, halt nur ein kleiner), müsste man auf einem direkt benachbarten Feld stehen, also ein Feld weit setzen. Es dauert mindestens eine Partie, bis diese Denke verinnerlicht ist. Aber dann entfaltet das Spiel seinen vollen Charme, und mit maliziösem Wohlgefallen versucht man, dem Gegner eine Falle aufzubauen, aus der er sich nicht mehr herauswinden kann.

Bauklötze! Die hölzernen Spielgesellen rufen bei den meisten Spielern einen ähnlichen Reflex hervor wie beim Krümelmonster: Kekse!

Bauklötze! Die hölzernen Spielgesellen rufen bei den meisten Spielern einen ähnlichen Reflex hervor wie beim Krümelmonster: Kekse!

Währenddessen an einem anderen Tisch: Bauklötze! Wie auch schwankende Holzschiffe lassen einem Bauklötze keine Chance, man will mit ihnen spielen. Diese frühkindliche Konditionierung haben sich auch Inka und Markus Brand für ihr La Boca, das Kosmos herausgebracht hat, zunutze gemacht, ein veritabler Marketinggag also. Wie schon in den wundervollen Vorkindergartentagen geht es darum, Häuschen zu bauen, allerdings keine Türme, die man dann mit einem glucksenden Giggern, leuchtenden Augen und speichelverklebten Patschehändchen wieder einstürzen lässt, nein, die Bauleitplanung sieht eine Art mehrgeschossigen, verwinkelten Wohnungsbau vor, an dem jeweils zwei Spieler beteiligt sind. Sie sitzen sich gegenüber, vor ihnen steckt eine Architektenzeichnung im Karton – und jeder sieht eine andere Seite des Gebäudes, wobei Vorder- und Rückseite nicht identisch sind. Beide Spieler versuchen als Team, die bunten Klötzchen so zu platzieren, dass die Anordnung mit der auf ihrer Kartenseite übereinstimmt.

Das erfordert Geschick, clevere Kommunikation und räumliches Vorstellungsvermögen. Wer darüber nicht verfügt, der wird La Boca wahrscheinlich hassen und den Karton am liebsten mit wilden Flüchen belegend in die Ecke pfeffern. Wer aber mindestens 137 Folgen „Bob, der Baumeister“ gesehen hat, der entdeckt ein kurzweiliges Spiel mit einer schönen, so noch nie dagewesenen Idee des kommunikativen Mannschaftsbauens, die noch dadurch angereichert wird, dass die jeweiligen Teams sozusagen gegen die Zeit puzzeln. Nachdem alle möglichen Spielerkombis gleich oft an der Reihe waren, steht der Sieger fest. Und wir fragen uns, warum La Boca nicht ein Stückchen weiter oben auf der Liste gelandet ist, also im Nominierungs-, nicht im Empfehlungsbereich (Vorschlag: zum Beispiel für Augustus)? Wahrscheinlich weil die Zahl der Bundesrepublikaner, die nur in 2D denken können, zu groß ist.

3D-Sehen ist der Hit, seit Neuestem auch im Kino, überall sonst bereits seit ein paar Millionen Jahren. Wer allerdings nur in 2D dazu denken kann, nun, der sollte vielleicht lieber etwas anderes spielen, nur nicht gerade La Boca.

3D-Sehen ist der Hit, seit Neuestem auch im Kino, überall sonst bereits seit ein paar Millionen Jahren. Wer allerdings nur in 2D dazu denken kann, nun, der sollte vielleicht lieber etwas anderes spielen, nur nicht gerade La Boca.

Wer die Zukunft vorhersehen kann, der hat es in der Regel im Leben nicht schwer. Dass diese Gabe bei den meisten Mitmenschen eher unterdurchschnittlich ausgeprägt ist, zeigt sich am deutlichsten immer mittwochs und samstags, denn die Zahl derjenigen, die nicht die richtigen sechs Ziffern aus einem 49er-Block ausgewählt haben, übertrifft die der Lottogewinner ja doch immer spürbar. Nun hat sich Brett J. Gilbert dazu – nomen non est omen – kein Brett-, sondern ein Kartenspiel ausgedacht: Divinare (Asmodee wiederum war so gnädig, Produktion und Veröffentlichung zu übernehmen). Darin geht es um einen Wettstreit der Weissager, die den besten ihrer Zunft suchen (und es drängt sich die Frage auf, ob der Mensch noch irgendeine Tätigkeit ausübt, in der man es nicht zu einem Titel bringen kann).

Die Jury beschreibt den Spielablauf von Divinare so: „Die Aufgabe lautet: Wie viele Karten der vier Farben sind jeweils im Spiel? Zu Beginn kennt jeder Teilnehmer nur seine Kartenhand sowie das jeweilige mögliche Maximum pro Farbe. Welche Karten aussortiert wurden, bleibt zunächst ungewiss. Reihum legt jeder Spieler eine Karte ab und muss sofort wetten, wie viele Karten der zugehörigen Farbe im Umlauf sind. Abgelegte Karten bringen allmählich Licht ins Dunkel …“ Der Arbeitsspeicher in der Gedächtnisabteilung des Großhirns sollte möglichst einwandfrei funktionieren, das Kartenglück einem in die Hände spielen – und wer auch noch eine gewisse Bluff-Befähigung mitbringt, hat gute Chancen, Weissagungs-Weltmeister zu werden. Das Thema von Divinare ist unverbraucht und damit schon mal erfrischend gut, die Karten sind hübsch und übersichtlich illustriert, wobei sich der Gleichstellungsbeauftragte der Pöppelhelden zurecht mokiert, dass auf den Karten mehr Männer als Frauen zu finden sind – wo doch jeder Jahrmarktsbesuch im Wien des 18. Jahrhunderts lehrt, dass das Kristallkugelkucken ganz klar ein Frauenberuf – wie heutzutage das Betreiben eines Nagelstudios – war. Natürlich kann ein Spiel, das die Frauenquote derart mit Füßen tritt, nicht nominiert, sondern höchstens empfohlen werden.

Und nun zu etwas komplett anderem, nichts von irgendeiner dieser aktuellen Listen. Tun wir mal so, als wenn wir alle für Guido Knopp arbeiten müssten und Detektive der Geschichte wären – obwohl nee, der Gedanke ist dann doch zu ekelig. Also noch mal: Tun wir mal so, als wenn wir für die archäologische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum arbeiten. Schon besser. Um die nötigen Praxis-Creditpoints im Vorstudium zu sammeln, müssen wir bei der Rekonstruktion einer alten Westernstadt helfen. Wir wissen lediglich, wo in der Stadt Häuser standen, nur eben nicht, welches davon dem Lehrer, dem Frisör oder dem Wirt gehörte. Das gilt es zu eruieren. Dafür müssen wir aber nicht im Staub der Mojave-Wüste buddeln, sondern den Staub von alten Zeitungsseiten, Lageplänen und sonstiger irgendwo in einem muffigen Keller einlagernden Primärquellen pusten, um das Stadtbild zu rekonstruieren. Somit ist Old Town, das Stephan Riedel im Eigenverlag Clicker Spiele herausbrachte, deutlich näher an der historischen Disziplin der Archäologie als Indiana-Jones-Filme. Denn Archäologen verbringen die meiste Zeit des Tages damit, sehr vergilbte Dokumente zu studieren – und eigentlich nie damit, Kunstraub an indigenen Bevölkerungsgruppen zu begehen (zumindest heutzutage).

In den alten Unterlagen findet der gemeine Stadtrekonstrukteur Hinweise wie diesen: „Der Richter wohnte an einer Ecke am Stadtrand der Stadt.“ Womit klar ist, dass nur noch vier Häuser in Frage kommen. Diese werden entsprechend markiert. Im Laufe des Spiels lassen sich bestimmte Standorte für das Gericht verlässlich ausschließen, irgendwann bleibt nur noch ein Markierungsstein auf einem Eckfeld des Stadtplans übrig – und dort muss er dann gelebt haben, der Ilja, der Richter (übrigens Danke noch mal für diesen Kalauer, Bodo!). Wer den „P.M. Logik Trainer“ mag, der wird auch Old Town mögen, mit logischen Schlussfolgerungen lassen sich die Standorte der Gebäude nach und nach feststellen. Aber auch dabei gilt: In der ersten Partie rumpelt es noch etwas, so als führe man mit dem Planwagen über die Prärie. Denn die Hinweise auf den Karten in einen Spielzug umzusetzen, erfordert Konzentration und ein wenig Übung. Also eine Lernpartie ist erforderlich, danach spielt sich Old Town aber geschmeidig und schön runter. In der Jubiläumsausgabe sogar mit edler Holzausstattung, wobei der Spielplan durch einen bedruckten Lappen ersetzt wurde, was die Frage aufwarf: Was macht denn dieses Omadeckchen auf dem Tisch?