Essen, 24. Oktober. Im Grunde sind die Messehallen auch nichts anderes als eine einzige große Kneipe. Gut, eine Kneipe, die kurz vor Toresschluss leergesoffen war, was ja wie ein absolut unrealistisches Szenario für den Ruhrpott klingt. Zumindest gab es für die Pöppelhelden beim Dämmerschoppen teilweise nur noch das Alster aus der Getränke-Deko. Aber auch sonst erinnert vieles und fast alles an: eine Kneipe. Es ist laut, viele Menschen riechen eigentümlich, für Getränke zahlt man so absurde Preise, als wäre frisches Einhornblut in die Flaschen gefüllt worden. Und wenn man zu lange in den dunklen Zweckbauten verbracht hat, brummt einem die Rübe. Vor alle, wenn man ständig Apfelkorn in sich hineinschütten muss.
Vielen Dank also liebes Lookout-Team. Oder genauer: liebes Schluckauf-Team. Seit der Kohlfahrt des Abiturjahrgangs 1995 hatten wir keinen Apfelkorn mehr trinken müssen. Aber jetzt, beim Kehraus-Karnickeln. Immer wenn das Kaninchen vom Zug erwischt wird, gibt es einen Schluck. Tuuuuuuuuut-TUUUUUUUT! Auch da ist die Spielemesse wie die gute alte Kneipe in unserer Straße. Nicht nur, dass dort ausschließlich gleichgesinnte Gesellen anzutreffen sind, sondern auch das Verhalten weist geradezu fatale Parallelen auf. Sei es, dass der Bierfässer-Vorrat bis zur Bilge gelenzt war (siehe oben), auch die Trinkanlässe für ein Destillat mit Obstaroma sind ähnlich. Man trinkt einen, weil man sich freut. Oder weil man sich langweilt. Oder eben, weil man einen Verlust verarbeiten möchte. Und niemand, aber wirklich niemand ist so verständnisvoll in dieser Situation wie Gevatter Apfelkorn. Schließlich ist es ja auch sehr, sehr traurig, wenn der kleine Chinchilla-Darsteller unter die Lok geraten ist.
Auch an anderen Stellen werden die Zecher unter den Spielern mit offenen Armen empfangen. Bei Zoch zum Beispiel. Bei Polterfass sind wir nicht nur Trinker, sondern auch gleich Wirte. Wir sollen die Gläser der Gäste füllen, die schon, ungeduldig mit den Hufen scharrend, auf ein alkoholhaltiges Erfrischungsgetränk in ihren Krügen warten. Aber schon wieder summen wir in Gedanken die Ärzte: „Wenn das mal alles so einfach wär …“ Zuerst einmal liegt die Schwierigkeit darin, dass es ein Würfelspiel ist. Also man muss sich Fortuna schon mal schön gesoffen haben, damit man nicht allzu betrübt ist, wenn es nicht läuft. Ist geschenkt, denn das mit dem Schönsaufen ist nicht kompliziert. Übrigens hilft eine gewisse Frusttoleranz durchaus, denn dass die Fässer beim Würfeln stehen bleiben, ist nicht selbstverständlich. Ach ja, genau, wir würfeln mit Fässern. Liegen alle auf der Seite und rollen weg, hat der Wirt versagt – und seine Tage am Zapfhahn sind gezählt. Quasi.
Der Wirt würfelt. Nach dem ersten Wurf wird die Anzahl der Krüge gezählt, die laut Fassprägung gefüllt werden können (schön mit Krone, ist doch klar). Nun geben alle Gäste verdeckt ihre Bestellung auf. Sollten sie in der Summe mehr gefordert haben, als der emsige Wirt am Ende seines Zapfdrangs servieren kann, gehen sie in Gänze leer aus. Und: Der Wirt trinkt alles selbst. Sollte der Wirt genügend Krüge volllaufen lassen, damit jeder Gast glücklich bechern kann, bekommt jeder seine Bestellung, während das, was übrig bleibt, an den Wirt geht. Nur wenn der Wirt alle Fässer umschmeißt (was nur nach dem ersten Wurf zu erneuten Würfen berechtigt), wird ihm die Schanklizenz entzogen und er geht leer aus, während alle Gäste trotzdem eine Gutschrift auf die von ihnen bestellten Krüge erhalten. Wer als erstes 75 Bier getrunken hat (oder so), darf sich als Sieger fühlen. Der Bremer Andreas Schmidt hat mit Polterfass ein ungewöhnliches Spiel vorgelegt, das vor allem in großen Runden, also am besten mit fünf oder sechs Spielern, viel Spaß macht. Lustig. Und absolut wirtshauskompatibel.
Apropos. Das Kartenspiel, ganz im Besonderen das Stichspiel, ist seit Jahrhunderten so etwas wie der natürliche Freund und Begleiter des Biertrinkers. Wie der Hund dem Waidmann ein treuer Kumpan, so sorgen der Skat oder die Schafkopfrunde auf angenehme Weise nicht nur für Kurzweil, sondern wirken auch durstanregend, sodass der Appetit auf gekühlte Erfrischungsgetränke auf Hopfenbasis stetig steigt. Besonders lobenswert ist da ein Unterfangen zu erwähnen, dass diese Verbindung auch jüngeren Generationen schmackhaft machen möchte. Friedemann Friese hat, wie ausführlich berichtet, den nordischen Kartenklassiker Kurkku, wie die lustigen Finnen sagen, zu Fünf Gurken aufgerockt. So simpel dieses Stichspiel mit nur einer Farbe ist, so lustig und locker lässt es sich spielen. Der optimale Begleiter in jedes Glasbiergeschäft. Und das Thema Gurken ist natürlich einfach der Hammer. Deutlich besser als Burgenbau im Mittealter. Und selbstredend viel cooler als Erbsen.
Doch spirituell aufgeladene Getränke können noch so viel mehr. „Alkohol ist dein Sanitäter in der Not“, philosophierte eins der Bochumer Barde Grönemeyer. Und einigen in unserer Anspielrunde von Tash-Kalar: Arena of Legends kamen diese tröstenden Worte auch in den Kopf. Dass sich der tiefere Sinn des neuen Epos‘ von Kult-Autor Vlaada Chvátil nicht sofort erschloss, mag auch an einer sehr lieblos dahingeschlotzten Erklärung gelegen haben, eine ohne thematische Einführung, eine ohne Nennung des Spielziels, eine, die sich stumpf auf recht zusammenhanglose Zugfragmente bezogen hat, eine, die auf Begleitung zumindest während der ersten drei Runden verzichtet hat. Die Liste der Enttäuschungen über die Behandlung am Heidelberger Stand ließe sich fortsetzen.
Das Fazit aber bleibt: Die Kneipe, in der uns der Wirt das Kristallweizen zusammen mit der Frikadelle nach Uromas Rezept mies gelaunt und schweißgeruchig auf den Tisch kotzt, nun ja, in dieser Kneipe will niemand gern bleiben. Was sehr schade ist. Denn die Erfahrung lehrt, dass die Auseinandersetzung mit Chvátil-Titel lohnt. Aber wenn der Verlag es nicht will, nun denn, dann tun wir ihm auch den Gefallen.
Ein weiterer von der Natur erfundener Anlass für den Konsum von isotonischen Getränken auf Getreidebasis ist der Sport. Was wahrscheinlich an dem inneren, genetisch bei den meisten programmierten Drang liegt, sofort einen Ausgleich zu all den von einer riesigen internationalen Wissenschaftlerverschwörung propagierten Vorteilen der Leibesübung zu schaffen. Zum Beispiel in unvernünftiger Zufuhr von Alkoholeinheiten. Besonders beliebt ist dieses Ritual bei extrem erfolgreichen Sportskanonen, die ihren Sieg natürlich ersteinmal ausgiebig begießen müssen. Ne, ne, ist schon klar. Schön daran ist auch, dass der Anhänger des Siegers es seinem Idol zumindest beim Feiern gleichtut, während er sich beim vorherigen Sport lediglich auf einen passiven Konsum konzentiert hat.
The Sheep Race mit seinem sehr niedlichen Spielfiguren und den famos gezeichneten Schaf-Karten wäre eigentlich mit zwei Halbfinals und einem Finale per se ein sensationeller Ansatz zum gemeinschaftlichen Anstoßen gewesen, aber leider wurde auch dieses Vergnügen durch den Mangel an vorbereiteten Erklärbären – und wir befinden uns immer noch bei den Heidelbergern – getrübt. So sympathisch und großartig das Engagement auch ist, uns trotzdem helfen zu wollen – das Regelvorlesen hätte auch der Literaturwissenschaftler am Tisch übernehmen können. Auch das trübte den ersten Eindruck gewaltig ein. Schade. In dem Spiel steckt wahrscheinlich mehr Spaß, als so zu entdecken war.
Wenn es einen hervorragenden Zeitpunkt für einen Exkurs gibt, dann jetzt. Unser Thema: koffeinhaltige Heißgetränke. Die Legende besagt ja, dass zwei Liter der heißen braunen Plörre aus dem Truck Stop dafür sorgen, dass man auch nach zwei Kisten Holsten Pilsener wieder fahrtüchtig ist. Kein Wissenschaftler gelang bis dato der Beweis, dass diese Hoffnung vieler Quartalssäufer stimmen könnte. Aber andererseits: Vielleicht irrt ja auch die Forschung. Zum Aufklären eignet sich zum Beispiel ein Cappuccino. Das neue abstrakte Taktikspiel von Pegasus ist so simpel, dass eine Vier-Bild-auf-dem-Schachtelrücken-Anleitung ausreicht. Man sucht sich eine Farbe der wundervoll gestalteten Kaffeekapseln aus und darf dann auf eine benachbarte hinaufhüpfen, vorausgesetzt, der eigene Kaffeekapselturm ist gleich hoch oder höher als der von uns besprungene. Das ist in der Tat schnell erlernt, ebenso schnell gespielt. Und ganz sicherlich lässt sich darin auch so etwas wie eine gewisse Meisterschaft erlernen. Aber Cappuccino ist definitiv nur etwas für Freunde des Genres, muss man halt mögen.
Die beliebteste Ausrede für die Akademiker unter den Trinkern ist ja, dass sie ihren Horizont erweitern müssen, was im Fach Landeskunde natürlich nur funktioniert, wenn sie die autochthonen Alkoholika verkosten. Ne, is‘ schon klar. Ohne sich einmal gepflegt mit dem Fusel des Ureinwohners ins Nirwana geschossen zu haben, ist eine fremde Kultur gar nicht zu verstehen.
Wie glücklich kann man sich da schätzen, wenn man sich mit einem Gebiet auseinandersetzen muss, das schon so wie der dort vergorene Alkohol heißt. Madeira zum Beispiel. Der Fachmann spricht bei der dort dargereichten Rotwein-Glycol-Suppe von aufgespritet, also davon, dass der Wein zwecks höherer Wirkung mit Branntwein verfeinert wird. Muss man auch nicht mögen, aber denken wie ein Inselindio kann man auch nur, wenn man das Gesöff in der Kehle gespürt hat. Zudem lassen sich die Madeira-Fässer auch auf andere Weise ganz wundervoll verwenden, um darin zum Beispiel Whisky reifen zu lassen. Jedem wird an dieser Stelle klar: Wer sich eine fremde Kultur ertrinken will, kann die schier ausufernde Aufgabe nur bewältigen, wenn er sich mit Hingabe, großer Empathie und auch einer gewissen Verbissenheit in sie hineinstürzt.
Ganz ähnlich geht es dem Connaisseur erlesener Spiele bei Madeira von What’s Your Game?. Nach Vasco da Gama und Vinhos legen sie nun wieder so ein Pfund vor, einen echten Brocken, der sorgfältig erkundet werden möchte und dessen feiner Verästelung nur gewahr wird, wer sich mit Akribie auf die Beobachtung einlässt. Bereits nach einer halben Anspielpartie wird klar, dass das Leben und Wirtschaften auf der kleinen Atlantikinsel alles andere als banal ist, von wegen ein paar Ziegen auf den Berg scheuchen und ab und an ein paar Weintrauben lesen. Wer also Lust hat, sich voll und ganz für locker zwei, wahrscheinlich sogar eher drei Stunden in dieses Inselparadies zu begeben, der wird garantiert nicht bestraft. Es sei denn, ihm kommt diese Art Spiel eher wie Arbeit und weniger wie Ferien vor. Und Madeira ist ein Kaliber, das man garantiert nicht gewinnen wird, wenn man – aus rein kulturellem Interesse natürlich – während der Partie dem Nationalgetränk zu sehr frönt. Man braucht einen klaren Kopf, auch wenn der am Ende rauchen wird. Schön. Könnte es auf die Weihnachtswunschliste schaffen.
Anschließend sollte noch ein Inselparadies entdeckt werden: Galapagos. Aber schnell haben wir gemerkt, dass dort Spirituosen keine Rolle spielen. Vielmehr geht es nur darum, Schildkröten zu fotografieren und sich vorab möglichst schnell aus dem Wurf mit den fünf Farbwürfeln eine passende Inseltour zu den Reptilien zu basteln. Nun denn, das rockt nicht, das ist für uns Landeskundler dann doch zu viel Natur und zu wenig (Trink-)Kultur. Wer keine Grundschulkinder hat, kann auch gepflegt die Finger von Galapagos lassen (und muss sich dann auch nicht über den fisseligen Rahmen aufregen; warum der nicht als Puzzle hergestellt wurde, bleibt ein Rätsel).
Des Abends ging es dann noch einmal kurz in die Südsee, wo das neue Carcassonne spielt. Natürlich stellt sich die Frage: Benötigt die Welt Bananenlikör und noch mehr Piña Colada? Was natürlich nur eine Analogie für die Frage, ob die Welt noch mehr Carcassonne benötigt, ist. Und sicherlich sagt man ersteinmal nein, bis man dann am Strand liegt und das erste Mal an seinem eiskalten Ananas-Kokosnuss-Cocktail nippt und seine Meinung revidiert. Es schmeckt, warum also sollte man verzichten? Tatsächlich ist die Südsee-Folge das zeitgemäßere Carcassonne, nicht nur weil es optisch mit den Urwäldern und den Muscheln, Fischen und Bananen aus Holz richtig etwas hermacht.
Autor Klaus-Jürgen Wrede ist es mit der Südsee-Ausgabe tatsächlich gelungen, Carcassonne noch einmal auf seinen wesentlichen Kern zu reduzieren, indem er das mühselige Werten eliminiert hat. Nun ernten die Insulaner Bananen, sammeln Muscheln und fischen Fische. Ab und an beliefern sie eines der Schiffe, um so Siegpunkte einzusammeln. Das spielt sich schlank und pointiert, wie das wahre Wesen von Carcassonne. Und wenn es heute noch einmal in dieser Form komplett neu erschienen wäre, dann hätte Hans im Glück bereits jetzt einen Kandidaten für das Spiel des Jahres im Rennen.
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