Oldenburg, im Oktober. Wenn man den Tschechowschen Intelligenzlern auf ihr stetes banges Fragen nach der Welt – wie sie in zwanzig, dreißig, vierzig Jahren wohl aussieht? – geantwortet hätte, daß in vierzig Jahren in Rußland die peinliche Befragung eingeführt sein würde, die da war: den Schädel mit einem Eisenring zusammenpressen (bei Dr. S., nach Aussagen von A. P. K-w.), den Angeklagten in ein Säurebad tauchen (bei Ch. S. T-e.), ihn nackt und gefesselt den Ameisen oder Wanzen aussetzen, ihm eine glühende Stahlrute in den After treiben („Geheimstempel“), langsam mit dem Stiefel seine Geschlechtsteile zertreten und, als leichtester Grad, ihn tagelang mit Schlaflosigkeit und Durst martern, ihn zu einem blutigen Klumpen schlagen – dann wäre kein Tschechow-Stück zu Ende gegangen, dies hätte alle Helden ins Irrenhaus gebracht. Och, Mensch, Solschenizyn, mit solchen Kapitelanfängen machst Du aber mal alles kaputt. Der schöne Plan, den rumpelnden Serientitel durch den jeweils ersten Satz der Kapitel in literarische Sphären zu heben, konterkarierst Du mit dieser, zugegeben unvermeidlichen, Härte. Es liest sich, als hättest Du mit Martin Klein am Wochenende Karma gespielt. Aber wir wollen doch Spaß haben an dieser Stelle. Wir Spieler mögen doch nur Spiele, in denen der historische Hintergrund kuschelig und wattig ist, ein bisschen dutzidutzi und schön. Wir wollen kein Spiel mit historischem Hintergrund, der eventuell – ja was eigentlich? – so wahr und so unangenehm ist. Wir wollen Friede, Freude, Eierkuchen. Deswegen gehen wir jetzt, weg vom Archipel, hin zur Insel des Himmels.

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Also lieber: Herbstlächeln. „Es läuft gut“, sagt Hanno Girke, lehnt sich auf dem Küchenstuhl zurück und nippt an seinem Vareler Tide Pils. Der Mitbesitzer von Lookout Spiele blickt auf ein gutes vergangenes Jahr und eine verheißungsvoll gestartete neue Spielzeit. Mit Uwe Rosenbergs Zweier-Näh-Tetris Patchwork landete Lookout im Vorjahr einen Überraschungshit. Man muss es so sagen. Sicher, sie wussten, dass es ein schönes Spiel ist. Aber das ein Titel mit einem Thema, das alle Marketing-Experten vorab sicherlich zum definitiven Nicht-Thema erklärt hätten, so durchstartet … „Ich warte darauf, wann die anderen mit Handarbeitstiteln kommen.“ Girke, der Ironiker.

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Im Sommer ging es wunderbar weiter. Als einziger Verlag landete Lookout gleich zwei Mal unter den zehn Besten beim Deutschen Spielepreis. Muran von den Brands wurde gar Vierter, Patchwork gelang der Sprung auf Platz zehn. Und dann ein fulminanter Start in den Sommer, endlich hat sich die Taktik ausgezahlt, gezielt in die „Diaspora des Spielebereichs zu gehen“, wie sie es bei Lookout nennen. Dann, wenn die letzten Wellen aus Nürnberg verebbt sind und die Essenflut noch nicht einmal zu erahnen ist. In die Lücke stößt Lookout nun, mit einer kleinen Schachtel und einem Zweier. Mit Johari und Gold Ahoi! klappte das 2014 noch nicht so wirklich. In diesem Jahr sieht es anders aus: Trambahn, das Kartenspiel für zwei ÖPNV-Nutzer, geht gut. Und das Legespiel Isle of Skye – es verzückt die Spielergemeinde. Jetzt stellt sich eher die Frage: Wann ziehen die anderen Verlage nach und versuchen im Rennen um Aufmerksamkeit schon in diese Prä-Essen-Lücke zu hüpfen? Jetzt, wo sie gesehen haben, dass sowohl textiles Gestalten als Thema als auch das Sommer- als Schlupfloch funktionieren.

Isle of Skye ist eigentlich unsere wichtigste Essen-Neuheit, auch wenn wir es drei Monate vorgezogen haben“, sagt Girke. Es ist das Alle-Ansprech-Spiel. Familien können es spielen, weil es sehr leichte Regeln hat. Die Geeks lieben es, weil sie nicht nur eine Landschaft bauen, sondern dabei durch das Versteigerungs-Element auch eine Menge zu tüfteln haben. Und abgesehen davon bedient Lookout auch ein bisschen den szene-immanenten Autorenkult; Alexander Pfister und Andreas Pelikan sind schließlich frisch Kennerspiel dekoriert für Broom Service. Und im neuen (im Übrigen sehr lesenswerten und mit einer Caverna-Minierweiterung verzierten) Ausguck-Magazin des Verlages aus der Wesermarsch, der „Austria-Edition mit 100 Prozent mehr Alpen-Klischees“, verrät Pfister im Interview, was das Herzstück des Spiel ist (bitte beim Lesen JETZT in den Schmäh-Modus wechseln): „Der Schwerpunkt isch ganz klar des mit dem Verkaufspreis festsetza und die unterschiedlicha Wertungen gsi. Und des isch üs o guat glunga, weil recht wenig drum herum isch.“ Stimmt. Was will man dem noch hinzufügen?

GHA

Autorenkult gibt es auch beim großen Vielspieler-Titel, Grand Austria Hotel: Simone Luciani hat es mitentwickelt, jau, Tzolk‘in-Luciani, jau, AufdenSpurenvonMarcoPolo-Simone. „Das Spiel ist für Grübler wie Weihnachten“, verspricht Girke. „Man hat im Spiel eigentlich nur 14 Aktionen. Aber jede Aktion zieht eine Kaskade von Folgeaktionen nach sich. Es ist ein typisches italienisches Design mit vielen Schnörkeln und Rädchen, die ineinader greifen, es ist eine riesiges Füllhorn an Mechanismen.“ Und wenn etwas gerade gefragt ist: dann italienisches Design. Allerdings war Grand Austria Hotel kein Selbstläufer, rund vier Jahre hat Lookout das Spiel in der Mache gehabt, entwickelt wurde es seinerzeit parallel mit Tzolk‘in. „Wir haben da sehr viel Entwicklungsarbeit reingesteckt – und dabei ist vom ursprünglichen Mechanismus nicht mehr viel übrig geblieben.“ Wie auch immer: Nach Auf den Spuren von Marco Polo klingt jedes Würfelspiel, das eigentlich gar keins ist, erst einmal spannend.

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Kann es um einen Kult-Autor noch einen Autorenkult geben? Was nach einer nervenzerfetzenden Ausgangsthese für eine Bachelor-Thesis klingt, ist in der Realität schlicht der neue Rosenberg. Wieder für zwei. Wie Patchwork. Und noch ein Lookout-Spiel mit langer, langer, langer Entwicklungszeit. „Das ist eins von Uwes Frühwerken“, sagt der Verlags-Eigner. Eins, das mal für drei Spieler gedacht war. Doch der Markt für Drei-Spieler-Titel ist ungefähr so überschaubar wie der für Monokel oder Sousaphon-Reiniger in der Bundesrepublik. Also wurde entschlackt. Vor allem der dritte Spieler. Aber auch andere Mechanismen. „Damit das Spiel die Leute nicht überfordert.“ Herausgekommen ist ein solides Zweipersonenspiel, das Spaß macht. Nicht mehr. Nicht weniger. Hanno Girke weiß, dass es keine zweite Patchwork-Epiphanie geben wird.

SuT

Zu guter Letzt noch ein Ehrenmal für einen, der lange schon nicht mehr unter uns weilt: Rudi Hoffmann, Spiel des Jahres gekrönt für Café International. Schuss und Tor war ein Fußball-Kartenspiel, das nun nicht in Vergessenheit geraten wird. Der Verlagseigner Hanno Girke macht so etwas öfter: Spiele, die er mag, pflegt er. Deswegen die 18xx-Reihe bei Lookout. Und jetzt eben dieses „Fußball-Maumau“, wie Girke es nennt. „Das Spiel verdient es einfach, wieder aufgelegt zu werden.“ Sein Sohn jedenfalls, der liebt Schuss und Tor. Und dessen Schulfreunde auch. Bemerkenswert ist dieser Titel im Lookout-Katalog aber auch deswegen, weil er von Nikolaus Moras illustriert wurde, der den Älteren unter den Spielern vielleicht noch für seine Hanni-und-Nanni- oder Burg-Schreckenstein-Buchcover in Erinnerung ist. Allein deswegen ist Schuss und Tor einen genaueren Blick wert. Einfach weil es so schön ist. Also so, wie wir Spieler es lieben.