Essen, im Oktober. Die anliegende Box des Butyrka-„Bahnhofs“, die berühmte „Filzbox“ (wo die Neuankömmlinge durchsucht wurden und es Platz genug gab, daß fünf, sechs Aufseher in einem Schub bis zu zwanzig Seki bearbeiten konnten), stand an diesem Tage leer, blank die groben Filzertische, nur etwas abseits saß an einem kleinen zufälligen Tischchen, von einer herabhängenden Lampe angeleuchtet, ein adretter schwarzhaariger NKWD-Major. Leer. Allein an einem kargen Metallschreibtisch in der Ecke sitzen. Das würde ich auch gern nach diesem Tag. Ein Tag Huhni mitnehmen, ihm Journalismus erklären, ihm etwas beibringen – mache ich doch gern Udo, habe ich gesagt. Aber widerspricht man seinem Chef bei der „Spiel doch!“? Zumal die vertraglich von Udo festgezurrte Probezeit von sechs Jahren gerade erst begonnen hat. Also habe ich versucht, Huhni Journalismus zu erklären. Ich habe es wirklich versucht. Wo ist der Wodka? Aber lest selbst.
Hallo, hier ist wieder euer Huhni. Ich besuche jetzt schon die vierte Reporterklasse. Und Udo hat gesagt, dass ich jetzt so weit bin, dass ich ins Hospital darf. Ich fand das gut, auch wenn ich nicht verstanden habe, was das bedeutet. Bis Hahni mir erklärte, dass das ein Krankenhaus ist. Da hatte ich erst Angst. Aber Udo wollte mich wohl verschaukeln. In Wirklichkeit treffen wir nur jeden Tag andere Leute, mit denen ich dann mitgehe. Was ich ganz schön finde, denn Udo ist ja oft sehr streng. Wenn ich zum Abschied winke, grinst Udo immer glücklich. Das freut mich dann.
Am Donnerstag hat mir Udo Andreas vorgestellt. Den habe ich erst gar nicht erkannt, weil er in diesem Jahr gar nicht wie sonst sein hellblaues T-Shirt getragen hat. Andreas ist ein richtiger Journalist, hat mir Udo erzählt. Einer, der für eine Zeitung arbeitet, die jeden Tag erscheint. Da habe ich erst gedacht, Udo verschaukelt mich schon wieder. Andreas muss jeden Tag Texte schreiben. Udo schreibt nie jeden Tag Texte. Andreas erklärte mir dann, was er jeden Tag macht. Zum Beispiel mit Politikern telefonieren. Das fand ich langweilig, deswegen habe ich gar nicht so genau hingehört. Ich habe gefragt, ob er schon mal über Hühner geschrieben hat. Geflügelzüchtervereine sind nicht seine Welt, hat er gesagt. Wie schade. Aber er schreibt ständig über ein krankes Krankenhaus – und da hatte ich dann doch verstanden, was Udo meinte, dass ich ins Hospital muss.
Andreas hat mir dann so viel über Journalismus erzählt, dass ich fast alles wieder vergessen habe. Weil sowieso den ganzen Tag nur geredet wurde. So viel kann sich doch niemand merken. Erst haben Udo und andere bei einem Treffen geredet. Da ging es um eine neue Zeitschrift, die Udo erfunden hat. Irgendwas mit Spielen natürlich. Aber er hat das zu Hause gar nicht erzählt. Ich glaube, er hat nur einmal kurz am Rande erwähnt, dass ich ihm nicht helfen kann, weil das ganz kompliziert ist. Aber die anderen, die Udo geholfen haben, haben immer von einfachen Spielen geredet. Da hat Udo wohl selbst wieder alles falsch verstanden. Komisch, dass keiner mit ihm geschimpft hat. Udo schimpft immer mit mir, wenn ich etwas falsch verstehe. Aber weil Udo der Chef ist, haben wohl alle zu viel Angst vor ihm. Das kann ich verstehen.
Irgendwann bin ich eingeschlafen, weil so viel geredet wurde. Udo hat es nicht bemerkt. Und Andreas war so nett, mich nicht zu verpetzen. Als wir dann gegangen sind, um die netten Pöppelhelden zu treffen, sollte ich den Schnabel halten und zuhören. Huhni, hat Andreas gesagt, heute gibt es Frontalunterricht. Und dann hat Andreas gar nicht mehr aufgehört zu erzählen, was man als junger Reporter beachten muss.
Andreas sagt, wenn ich das erste Mal einen Text über ein Spiel schreibe, soll ich eins aussuchen, das ich doof finde. Es ist leichter, etwas Böses zu schreiben. Etwas gut zu finden und das zu formulieren, ist viel schwieriger. Jetzt weiß ich wenigstens, warum Udo über so viele Spiele meckert und dann so strenge Texte veröffentlicht. Er macht es sich einfach. Das hätte ich mir auch denken können.
Dann musste ich noch vor dem Abendbrot einen Text schreiben. Nur üben hilft, sagt Andreas. Ich hatte keine Lust. Aber er hat immer hinter mir gestanden und war ganz streng, dass ich mich beeilen soll. Als er meinen Text dann gelesen hat, wurde er ganz still. Dann hat er nur gesagt, dass Kommasetzung kein Hexenwerk ist und festen Regeln folgt. Er hat mir das dann erklärt. Und das mit den Parzimapialsätzen habe ich auch behalten. Damit kann ich zu Hause gleich bei Udo angeben. Was Konjunkturtief I und II sind, wusste ich aber nicht. Sieht man, sagte Andreas. Danach war er erst mal ganz still und sah sehr müde aus. Ich glaube, immer wenn er mir zugeguckt hat, als ich einige Sätze neu schreiben sollte, hat er mit dem Kopf geschüttelt.
Nachtrag, am Samstag.
Nach der Arbeit sind wir zu Nelson Müller, dem Fernsehkoch, ins Restaurant gegangen. Den kannte ich aber nicht. Udo lässt Hahni und mich nie Fernseh gucken. Immer müssen wir etwas spielen. Eigentlich wollte ich gern eine Cola trinken, weil ich das sonst abends nicht darf. Dann hat Andreas mir aber gesagt, dass es beim nächtlichen Schreiben besser ist, Weißwein zu trinken, weil der den Geist belebt. Rotwein macht müde. Ich durfte dann an seinem Glas riechen und probieren. Er hatte einen Sowieso Blond bestellt. Der schmeckte erst nach ganz alten Weintrauben, also nicht so lecker wie Cola. Und nach dem zweiten Schluck war mir ganz seltsam. Ich habe dann aber mit den Pöppelhelden viel gelacht. Sie haben mich gebeten, dass ich von zu Hause erzählen soll. Das habe ich gern gemacht. Zum Beispiel, dass Udo heimlich zu Helene-Fischer-Konzerten geht und in der Dusche immer ganz laut und schief „Atemlos“ singt. Und dass er im Schlaf manchmal redet. Neulich hat er gesagt, dass er so gern Monopoly spielen würde. Da haben alle ganz laut gelacht. Ich auch.
Ich durfte dann noch einen Wein trinken. Aber ich kann mich gar nicht erinnern, was danach passierte. Am Samstag bin ich bei den Pöppelhelden in der Wohnung aufgewacht und musste erst mal spucken. Simone hat mir dann eine Tablette gegeben. Und schnell ging es mir wieder besser. Alle waren so lieb zu mir. Und alle haben versprochen, dass sie Udo nicht erzählen, was passiert ist. Ich mag die Pöppelhelden.
Tschüss, Euer Huhni
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